* 48 *

Marcia, Septimus und Jenna traten unter dem Großen Bogen hervor, blieben kurz stehen und blickten die befreite Zaubererallee hinunter. Es war ein schöner, kalter Morgen. Die Sonne blinzelte hinter einer Wolkenbank hervor und sandte schräge Strahlen über die Allee. Die ersten richtigen Schneeflocken der Großen Kälte begannen zu fallen, rieselten träge im blassgelben Sonnenschein und sanken auf das frostige Pflaster.
Marcia sog tief die kalte, prickelnde Luft ein und eine Welle des Glücks wogte in ihr hoch – aber sie durfte erst restlos zufrieden sein, wenn sie die Hermetische Kammer entsiegelt hatte. Und Beetle noch lebend vorgefunden hatte.
Marcia war auf tausend Dinge gefasst, als sie den Kundenraum des Manuskriptoriums betrat, nur nicht darauf, den Porter Hexenzirkel dort anzutreffen. Die Hexen hatten einen Ausflug gemacht, um das Ende des Zaubererturms mitzuerleben. Doch dann hatte ihnen die ganze Sache zu lange gedauert, und aus lauter Langeweile hatten sie die mit Brettern vernagelte Tür zum Magazin für wilde Bücher und Charms aufgebrochen. Von dort kamen sie gerade zurück, mit Pelzhaaren, Federn und Schuppen bedeckt, als sie zu ihrem Entsetzen feststellen mussten, dass nicht nur der wunderbare schwarze Nebel verschwunden war, sondern auch diese grässliche Außergewöhnliche Zauberin vor ihnen stand. Dorindas spitzer Schrei sprach für sie alle.
Zu Jennas Freude machte Marcia den Hexen ordentlich Beine. Sie hatten es so eilig, wegzukommen – selbst die Hexenmutter hoppelte auf ihren Plateauschuhen mit beachtlicher Schnelligkeit –, dass sie Nursie ganz vergaßen, die unbemerkt neben einem umgefallenen Bücherstapel saß. Nursie hatte in einer Schublade einen Geheimvorrat verstaubter Lakritzschlangen entdeckt und kaute nun stillvergnügt vor sich hin. Sie hatte nämlich eine Schwäche für Lakritze.
Marcia rannte, dicht gefolgt von Jenna und Septimus, ins eigentliche Manuskriptorium. Überall lagen umgestürzte Pulte, Papierschnipsel und zerbrochene Lampen herum. Und alles war mit einem klebrigen grauen Staub bedeckt, in dem Septimus angewidert abgestoßene Gespensterhaut erkannte. Sie bahnten sich rasch einen Weg durch das Durcheinander. Vor dem steinernen Bogeneingang zur Hermetischen Kammer blieben sie stehen.
»Das Siegel ist fort«, sagte Marcia mit belegter Stimme. »Ich befürchte das Schlimmste.«
Der Gang mit den sieben Biegungen sah verdächtig benutzt aus – über den Fußboden zog sich eine schleimige Gespensterspur. Wie von Riesenschnecken, dachte Septimus. Er trat in den Gang und rief vorsichtig in das Dunkel: »Beetle ... Beetle.« Es kam keine Antwort.
»Klingt, als ob niemand mehr drin wäre«, flüsterte er.
»Ich finde«, sagte Jenna langsam, »das hört sich eher so an, als ob weiter hinten etwas den Gang blockiert.«
»Es wäre durchaus möglich, dass das Siegel ein Stück den Gang hinunter noch intakt ist«, pflichtete Marcia bei.
»Geht das denn überhaupt?«, fragte Septimus. »Ich dachte, es existiert nur im Ganzen.«
»Wir müssen nachsehen«, sagte Marcia schnell und verschwand in dem Gang mit den sieben Biegungen. Septimus und Jenna liefen ihr nach. Als sie um die sechste Ecke bogen, prallte Septimus gegen Marcia.»Uff!«
Marcia stand vor einer schartigen Wand. »Sie ist noch versiegelt«, flüsterte sie aufgeregt. »Das ist wirklich erstaunlich. Das Siegel ist angekratzt, aber ich glaube ... ich glaube, es ist noch unversehrt.«
»Heißt das, dass Beetle ...« Septimus brachte die Frage nicht über die Lippen. Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass Beetle nicht mehr am Leben sein könnte.
»Wir können nur hoffen«, erwiderte Marcia grimmig.
Mit angeekeltem Gesicht legte sie die Hände auf die schmutzige, klebrige Oberfläche des Siegels, und im Schein des Drachenrings beobachteten Jenna und Septimus, wie das Siegel sich selbst reparierte. Bald war seine Oberfläche wieder glatt, erglänzte in einem magischen Lila und strahlte in den Gang mit den sieben Biegungen, sodass die widerwärtige Schicht aus Schleim und Gespensterhaut überdeutlich zu sehen war. Septimus stellte sich vor, wie das Siegel im Dunkeln geleuchtet und die Gespenster bei ihrem Eintreffen gereizt haben musste – kein Wunder, dass sie es angegriffen hatten. Er selbst hätte einen Tarnzauber hinzugefügt.
Nun begann Marcia mit der Entsiegelung. Jenna wich vor der plötzlichen Entladung magischer Kräfte zurück, die in dem engen Gang so verdichtet wurden, dass sie ein ganz flaues Gefühl bekam. Septimus hingegen war fasziniert. Er beobachtete, wie die glänzende Fläche noch heller zu leuchten begann und langsam vor ihnen zurückwich. Schritt um Schritt folgten Marcia und Septimus dem Siegel, bis es am Ende des Gangs zum Stehen kam. Sie warteten nervös und sahen zu, wie die diamantharte Oberfläche immer durchsichtiger wurde, bis dahinter die Hermetische Kammer und schemenhafte Umrisse zu erkennen waren.
Das Siegel wurde immer dünner, dann trennte sie nur noch ein leichtes magisches Wabern von der Kammer. Septimus konnte sehen, dass Beetle zusammengesunken am Tisch saß. Ob er tot oder noch am Leben war, konnte er nicht erkennen.
Wieder streckte Marcia die Hände aus – sie zitterten, wie Septimus bemerkte – und legte sie auf die wabernde Fläche. Bei ihrer Berührung zerrann auch der letzte Rest des Siegels, und ein Luftstoß rauschte an ihnen vorbei in die Kammer.
»Beetle!« Septimus rannte zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter, doch sein Freund fühlte sich so kalt an, dass er erschrocken zurückfuhr. Jenna war ihm hinterhergelaufen. In panischer Angst sahen die beiden nun Marcia an.
Die Außergewöhnliche Zauberin trat an den Tisch, auf dem die Belagerungsschublade mit dem Boden nach oben lag. Ein Knäuel Lakritzschnüre schaute darunter hervor. Wo war der Charm für den Aufhebungszauber?
»Er ist kalt«, sagte Septimus. »Richtig kalt.«
»Nun ja, er muss kalt sein, wenn ...« Marcia betrachtete die Lakritze. Das ließ nichts Gutes ahnen.
»Wenn was?«, fragte Septimus.
»Wenn ihm der Aufhebungszauber geglückt ist.« Marcia klang besorgt.
Aber auch, wenn er ihm nicht geglückt ist, dachte Septimus bei sich, sagte aber nichts. Sie sahen zu, wie Marcia vorsichtig Beetles Oberkörper hob, sodass er aufrecht zu sitzen kam. Seine Augen waren geschlossen, und sein Kopf fiel leblos nach vorn.
Jenna schrie entsetzt auf.
»Beetle«, sagte Marcia und schüttelte ihn sanft an den Schultern. »Beetle, Sie können jetzt aufwachen.« Sie erhielt keine Antwort. Die Zauberin blickte zu Jenna und Septimus. Ihr stand die Angst in den Augen.
Marcia kauerte sich vor Beetle nieder, fasste seinen Kopf mit beiden Händen und bog ihn zurück, sodass sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. Dann holte sie tief Luft. Wieder erfüllte ein magisches Summen die Kammer, und Marcias Mund entströmte ein rosafarbener Nebel, der Beetles Gesicht überzog und seinen Mund und seine Nase bedeckte.
Septimus und Jenna wagten selbst kaum zu atmen. Marcia atmete immer noch aus. Doch Beetle zeigte keine Regung. Sein Gesicht schimmerte leichenblass durch den rosa Nebel. Und dann sah Septimus, dass der Nebel vor Beetles Nase in Bewegung geriet, wie Rauch, der aus einem Schornstein quoll. Beetle atmete. Ganz langsam und zuckend öffneten sich seine Augen. Mit glasigem Blick sah er Marcia an.
Septimus stürzte zu ihm. »He, Beetle, wir sind ’s. Ach, Beetle!« Er fiel dem Freund um den Hals.
Marcia lächelte erleichtert. »Gratuliere, Beetle«, sagte sie, »das Herz des Manuskriptoriums ist unversehrt. Ich danke Ihnen.«
Beetle zeigte sich wie gewohnt der Situation gewachsen. »Keine Ursache ...«, sagte er.
Sie saßen zwischen den umgestürzten Pulten im Manuskriptorium. Beetle sah blass aus und trank zittrig einen stärkenden Fruchtblubber, den Septimus in der alten Küche seines Freundes hinten auf dem Hof gefunden hatte. Jenna war gegangen, wie Beetle feststellte. Sie war, kurz nachdem Beetle wieder erwacht war, zum Palast gerannt. Beetle, der seit der Aufhebung des Zaubers wieder einen klaren Kopf hatte, wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Hätte Jenna nur mit knapper Not zwei Tage in einer versiegelten, luftdichten Kammer überlebt, so wäre er jedenfalls nicht bei der erstbesten Gelegenheit davongerannt. Wach endlich auf, sagte er sich.
Marcias Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Noch heute Abend muss ich beginnen, die Wahl des neuen Obermagieschreibers vorzubereiten«, sagte sie. »Ich muss gehen. Ich werde jeden einzelnen Schreiber persönlich aufsuchen. Ich möchte feststellen, ob sie alle noch ... verfügbar sind.«
Beetle dachte an Foxy, Partridge und Romilly. Er dachte an Larry. An Matt, Marcus und Igor in der Gruselgrotte, selbst an die komischen Vögel im Sandwich-Zauberland. Wie viele von ihnen waren wohl »noch verfügbar«?
Bevor Marcia ging, wandte sie sich noch einmal an Beetle. »Es ist jammerschade«, sagte sie in vertraulichem Ton, »dass Sie nicht mehr dem Manuskriptorium angehören. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch Ihr Federhalter im Topf liegen würde.«
Beetle wurde rot vor Freude über das Kompliment. »Vielen Dank«, sagte er. »Aber das Los würde bestimmt nicht auf mich fallen. Ich bin viel zu jung. Außerdem war ich nie ein richtiger Schreiber.«
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Marcia. »Der Topf wählt den aus, der sich am besten eignet.« Sie verzichtete darauf hinzuzufügen, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, warum er Jillie Djinn ausgewählt hatte. »Aber vielleicht könnten Sie bis zur Auslosung hierbleiben und aufpassen. Ich möchte das Manuskriptorium nicht unbeaufsichtigt lassen.«
Wieder fühlte sich Beetle geschmeichelt, aber er war bereits aufgestanden. »Es tut mir leid, aber ich muss nach Larry sehen. Ich möchte meine Stelle bei ihm nicht verlieren.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Marcia und öffnete ihm die Tür zum Kundenraum. Sie hätte nicht fragen sollen – offensichtlich weckte der Aufenthalt im Manuskriptorium bei ihm noch immer schmerzliche Erinnerungen. Sie sah zu, wie er in die Morgensonne hinaustrat, und rief nach hinten ins Manuskriptorium: »Septimus! Du übernimmst hier die Aufsicht. Du hast meine Erlaubnis, einen umfassenden Wiederherstellungszauber zu wirken. Ich bin bald mit allen Schreibern zurück.«
Von der anderen Seite der dünnen Trennwand hörte Septimus Marcia gleich darauf laut sagen: »Das Manuskriptorium ist heute geschlossen. Ich schlage vor, Sie kommen morgen wieder, wenn es eine neue Leitung hat. Wie? Nein, ich habe keine Ahnung, wohin die Hexen sind. Nein, ich bin keine Hexe, wie kommen Sie denn auf die Idee? Ich, werte Frau, bin die Außergewöhnliche Zauberin.«
Dann hörte Septimus, wie Nursie kurzerhand vor die Tür gesetzt wurde, und musste schmunzeln. Marcia war wieder ganz die Alte.
Draußen vor dem Manuskriptorium sah sich Marcia weiteren Belästigungen ausgesetzt. Nursie klebte wie Gespensterhaut an ihr, und zu allem Überfluss nahte nun auch noch die vertraute Gestalt Marcellus Pyes. Marcia beschloss, so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt.
»Marcia!«, rief Marcellus. »Marcia, warten Sie!«
»Tut mir leid!«, rief sie zurück. »Bin in Eile.«
Aber Marcellus ließ sich nicht abwimmeln. Er beschleunigte seine Schritte, einen unfreiwilligen Begleiter hinter sich herziehend. Als die beiden näher kamen, erkannte Marcia, wer es war.
»Merrin Meredith!«
Nursies Ohren waren nicht mehr die besten. »Ja?«, fragte sie.
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen nach Hause gehen?«, fuhr Marcia sie an.
Aber Nursie hörte nicht hin. Sie starrte auf die schlurfende, schniefende Gestalt, die Marcellus hinter sich her zerrte.
Marcellus war hochrot im Gesicht und sichtlich erschöpft, als er bei Marcia und Nursie ankam.
»Marcia, ich habe etwas für Sie«, sagte er, griff in eine tiefe Tasche, zog eine kleine braune Schachtel aus billiger Pappe hervor und reichte sie Marcia.
Marcia betrachtete sie ungehalten. »Springo-Fasszapfen«, las sie auf dem Deckel. »Marcellus, was um alles in der Welt soll ich denn mit Fasszapfen?«
»Sally hatte nur diese eine Schachtel«, erwiderte Marcellus. »Und es sind keine Fasszapfen drin, was immer das auch sein mag. Aber lieber hätte ich jeden Tag mit Fasszapfen zu tun als ... aber sehen Sie selbst.«
Marcias Neugier siegte über ihre Ungeduld. Sie öffnete die dünne Schachtel und zog ein blutbeflecktes Stück Stoff heraus. Etwas Schweres fiel ihr in die Hand. Ihr stockte der Atem.
»Du lieber Himmel, Marcellus! Wie sind Sie denn da drangekommen?«
»Was glauben Sie denn?«, erwiderte Marcellus ruhig und blickte bedeutungsvoll zu Merrin, der vor sich hin starrte.
Marcia sah sich Merrin genauer an und bemerkte, dass um seine linke Hand ein dicker Verband gewickelt war. Auf der Binde war ein dunkelroter Fleck zu sehen, dort, wo – wie Marcia jetzt begriff – sein Daumen gesessen hatte. Sie starrte auf den doppelgesichtigen Ring, der schwer und kalt in ihrer Hand lag, und empfand fast so etwas wie Angst.
»Mit Verlaub, ich würde vorschlagen, dass wir den Ring vernichten«, sagte Marcellus ruhig. »Selbst im besten und sichersten Versteck wird er eines Tages wieder von irgendeinem Narren – oder jemand Schlimmerem – gefunden werden und ihm unerhörte Macht verleihen.«
»Ja«, stimmte ihm Marcia zu, »er muss vernichtet werden. Aber wir haben das magische Feuer nicht mehr, dass man dazu benötigt.«
Marcellus war nervös, als er Marcia eine Lösung vorschlug, die er für das Beste hielt. »Marcia, ich hoffe, Sie haben mittlerweile so viel Vertrauen in mich gefasst, dass Sie meinen Vorschlag ernsthaft in Erwägung ziehen: Ich würde gern in meine alte Alchimiekammer zurückkehren. Mit Ihrer Erlaubnis könnte ich das magische Feuer wieder entfachen, und innerhalb eines Monats wäre die Burg den verderblichen Ring für immer los. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich die Eistunnel instand halten und mich in nichts einmischen werde.«
»Na schön, Marcellus, ich vertraue auf Ihr Wort. Ich werde den Ring einstweilen in das Verborgene Fach legen.«
»Hmm ... ich hätte da noch eine weitere Bitte«, sagte Marcellus zögernd.
Marcia wusste, was er wollte. »Ja«, sagte sie mit einem Seufzer. »Ich werde Ihnen Septimus für einen Monat überlassen. Ich sehe ein, dass Sie Hilfe brauchen werden. Wir müssen in dieser Sache zusammenstehen. Wir benötigen die Alchimie ebenso wie die Magie, um die Dunkelkräfte im Gleichgewicht zu halten. Sind Sie einverstanden?«
Marcellus strahlte bei der Aussicht, in sein altes Leben zurückzukehren, und er fühlte sich erleichtert und glücklich. »Ja, ich bin einverstanden. Voll und ganz einverstanden.«
Während dieses Gespräch geführt wurde, hatte Nursie Merrins verbundene Hand ergriffen und sich missfällig über den Verband geäußert, der, wie selbst Marcellus sehen konnte, Pfuschwerk war.
Marcia betrachtete die beiden und fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg. Was sollte sie nur mit Merrin anfangen? Viele seiner Missetaten waren dem bösen Einfluss des doppelgesichtigen Rings zuzuschreiben, aber das änderte nichts daran, dass es sein eigener Entschluss gewesen war, den Ring überhaupt erst anzustecken.
Marcia wusste, dass Nursie die Wirtin des Puppenhauses war, einer schäbigen Pension in Port, in der Jenna und Septimus bekanntlich einst eine ereignisreiche Nacht zugebracht hatten. Vor einiger Zeit hatte Tante Zelda ihr etwas über Nursie erzählt, dem sie damals wenig Beachtung geschenkt hatte. Jetzt aber, als sie Nursie und Merrin nebeneinander sah, die linkische Art, wie sie dastanden, ihre großen Nasen und ihre blässliche Haut, da wusste sie, dass das, was ihr Tante Zelda erzählt hatte, stimmen musste. Sie wandte sich an Nursie und fragte: »Nehmen Sie noch Pensionsgäste auf?«
Nursie blickte überrascht zu ihr auf. »Wieso? Haben Sie vom Turm genug? Wohl zu viel Putzerei, wie? Ja ja, die vielen Treppen, das geht in die Knie. Ich verlange eine halbe Krone die Woche, zahlbar im Voraus, heißes Wasser und Bettzeug gehen extra.«
»Ich fühle mich im Zaubererturm rundum wohl, besten Dank«, erwiderte Marcia frostig. »Aber für diesen jungen Mann hier würde ich gern für ein Jahr im Voraus bezahlen.«
»Ein Jahr im Voraus?« Nursie, die ihr Glück nicht fassen konnte, stockte der Atem. Sie würde das Haus neu streichen lassen können und, was noch viel besser war, sie musste nicht mehr für diese grässlichen Hexen arbeiten.
»Krankenpflege, allgemeine Fürsorge und Zuwendung inbegriffen«, fügte Marcia hinzu. »Außerdem heißes Wasser, Bettzeug und Verpflegung. Dem jungen Mann wird es bestimmt eine Freude sein, Ihnen im Haus zu helfen, wenn seine Hand wieder gesund ist.«
»Die wird nie wieder gesund«, knurrte Merrin. »Sie hat keinen Daumen mehr.«
»Daran wirst du dich gewöhnen«, sagte Marcia fröhlich. »Jetzt bist du den Ring los und musst das Beste daraus machen. Ich würde dir empfehlen, mein Angebot, mit der Krankenschwester hier mitzugehen, anzunehmen. Andernfalls wirst du in absehbarer Zukunft nur die Sicherheitskammer im Zaubererturm zu sehen bekommen, und zwar von innen.«
»Ich gehe mit ihr«, sagte Merrin. »Sie ist in Ordnung.«
Nursie tätschelte seine gesunde Hand. »Guter Junge«, sagte sie.
»Marcellus, haben Sie sechs Guineen bei sich?«, fragte Marcia.
»Sechs Guineen?«, quiekte Marcellus.
»Ja. Sie klimpern doch ständig mit Goldmünzen. Sie bekommen das Geld von mir zurück.«
Marcellus stöberte in seinen Taschen und reichte ihr äußerst widerstrebend sechs funkelnagelneue Guineen. Nursie fielen fast die Augen aus dem Kopf. So viel Gold hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen. Marcia legte aus eigener Tasche noch eine Krone dazu und hielt der sprachlosen Pensionswirtin die Münzen hin.
»Etwas mehr, wie Sie feststellen werden«, sagte sie. »Damit können Sie den Fahrpreis nach Port bezahlen. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie noch die Abendfähre.«
»Komm, Kleiner.« Nursie hakte sich bei Merrins gesundem Arm unter. »Lass uns von hier verschwinden, ich habe die Burg noch nie gemocht. Unangenehme Erinnerungen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Merrin. »Ein Stinknest.«
Marcellus und Marcia sahen den beiden hinterher, wie sie davongingen. »Na«, sagte Marcellus, »sie scheinen ja gut zusammenzupassen.«
»Das sollten sie auch«, erwiderte Marcia. »Sie sind Mutter und Sohn.«
Foxy war der erste Schreiber, den Marcia ausfindig machte und ins Manuskriptorium schickte. Auf dem Weg dorthin traf er Beetle, der gerade aus Larrys Laden für tote Sprachen kam.
»Tag, Beetle!«
»Tag, Foxy!«
Sie musterten einander eine Weile, froh, sich wiederzusehen.
»Bei dir alles soweit in Ordnung?«, fragte Beetle.
»Ja.« Foxy grinste.
»Dann warst du also nicht im Freien, als es dich erwischt hat?«
»Nein. Ich bin am Kamin eingedöst und zwei Tage später wieder aufgewacht. Mein Mund war wie ausgetrocknet, aber sonst war alles in Ordnung. Nur ...«, Foxy seufzte, »meine Tante ist spurlos verschwunden. Sie war draußen, als das Dunkelfeld in unser Viertel kam. Sie hat es nicht mehr rechtzeitig ins Haus geschafft. Wir können sie nirgends finden. Und jetzt ... na ja, jetzt heißt es, ein Drache hätte Menschen geholt.« Er erschauderte.
»Ach, Foxy«, sagte Beetle. »Das tut mir sehr leid.«
»Ja.« Foxy wechselte das Thema. »Aber, he, du siehst auch nicht besonders gut aus. War es in der Kammer so schlimm?«
»Ja«, antwortete Beetle. »Sie haben ständig gehämmert und versucht hereinzukommen.«
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte Foxy.
»Ja. Und ich möchte nie wieder Lakritzschnüre sehen.«
»Aha.« Foxy entschied sich, nicht nach dem Grund zu fragen. Beetle hatte ein merkwürdig verzweifeltes Gesicht gemacht, als er das Wort »Lakritzschnüre« aussprach.
Also wechselte er erneut das Thema. »Und ... äh ... wie geht es Larry?«
»Auch nicht besonders«, antwortete Beetle. »Er hat mich gerade gefeuert. Weil ich zu spät gekommen bin.«
»Zu spät gekommen?«
»Zwei Tage.«
Foxy legte Beetle den Arm um die Schultern. Er hatte Beetle noch nie so niedergeschlagen gesehen. »Schöner Mist«, sagte er.
»Das kann mal wohl sagen, Foxy.«
»Hast du Lust auf ein Sandwich mit Würstchen?«
Beetle sah die einladenden Lichter des Sandwich-Zauberlands durch das Grau des Winternachmittags leuchten, und plötzlich bekam er einen Bärenhunger. »Und wie«, sagte er.
Jennas Fußstapfen hinterließen eine gerade Spur im Schnee, als die Prinzessin langsam zum Palast hinaufging. Die Wintersonne war bereits hinter den alten, zinnenbewehrten Mauern versunken, und der Palast hob sich dunkel gegen den Spätnachmittagshimmel ab. Er bot einen unheimlichen Anblick, und dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass in den Wipfeln der Zedern unten am Fluss von Zeit zu Zeit eine Krähe krächzte. Aber Jenna sah ihn mit anderen Augen. Silas und Sarah hatten ihr angeboten, sie zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt. So und nicht anders wollte sie in ihren Palast zurückkehren – allein.
Die alte Flügeltür stand halb offen. Simon hatte sie nicht geschlossen, als er mit Sarah im Arm geflohen war. Und sie wurde von einer vertrauten Gestalt bewacht.
»Willkommen zu Hause, Prinzessin im Wartestand«, grüßte Sir Hereward.
»Vielen Dank, Sir Hereward«, antwortete Jenna und trat ein. Eine Schneeböe wehte mit ihr hinein. Jenna hängte ihren Hexenmantel in die Garderobe und schloss mit einem Gefühl der Zuneigung die Tür. Der Mantel hatte ihr gute Dienste geleistet, und vielleicht würde sie ihn eines Tages ja wieder brauchen.
»Sie sollten besser mit hereinkommen«, sagte sie zu Sir Hereward, der noch draußen im Schnee stand.
»Eigentlich«, erwiderte Sir Hereward, »sollte ich nun, da Sie den ganzen Palast in Besitz genommen haben und nicht nur Ihr Zimmer, draußenbleiben, Prinzessin.«
»Mir ist es lieber, wenn Sie hereinkommen«, sagte Jenna. »Ich könnte etwas Gesellschaft gebrauchen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sir Hereward folgte ihrer Aufforderung lächelnd, und Jenna drückte rasch die Türflügel zu. Sie schlossen sich mit einem Knall, der laut durch das leere Gebäude hallte. Jenna schaute sich in der Eingangshalle um, die voller Schatten und Geister war, dann griff sie in die Tasche, zog den Kerzenlicht-Charm heraus, den ihr Septimus am Nachmittag gegeben hatte, und machte sich daran, die vielen verloschenen Kerzen wieder anzuzünden.
Später am Abend saß sie in Sarahs altem Salon und hielt eine verstörte Ente in den Armen, als sie plötzlich Schritte den Langgang herunterkommen hörte. Es war nicht das leise Tripp-Trapp von Geisterschritten, sondern das feste Stampfen menschlicher Stiefel. Sir Hereward, der am Kamin gewacht hatte, verließ seinen Posten, um nachzusehen. Zu Jennas Überraschung und Freude kam er mit Tante Zelda und Wolfsjunge zurück!
Tante Zelda stürmte auf Jenna zu und schloss sie in eine weiche Umarmung, und Wolfsjunge grinste übers ganze Gesicht.
»Es tut uns ja so leid, dass wir dein Fest verpasst haben«, sagte Tante Zelda. »Aber es war ganz merkwürdig – wir kamen zwei volle Tage einfach nicht aus dem Königinnengemach heraus.«
Sie setzten sich alle an den Kamin. Da fiel Tante Zeldas Blick auf die Ente auf Jennas Schoß. »Dieses Geschöpf hatte zu Dunkelkräften Kontakt, mein Kind«, sagte sie missbilligend. »Ich hoffe doch, du spielst nicht mit Dingen herum, von denen du lieber die Finger lassen solltest. In der Vergangenheit hat das leider so manche Prinzessin in deinem Alter getan.«
»Oh ...« Jenna wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war, als wüsste Tante Zelda von ihrem Porter Hexenmantel, der im Garderobenschrank hing.
»Und jetzt, liebe Jenna«, sagte Tante Zelda, »musst du mir alles erzählen.«
Jenna legte noch ein paar Kohlen nach. Es würde ein langer Abend werden.